Schreibregel der Woche
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Schreiben ist eine überwiegend einsame Betätigung. Man sitzt wochen- oder gar monatelang allein am Schreibtisch. Während besonders konzentrierter Endphasen kurz vor Abgabeterminen mutiert man leicht zum Einsiedel-Schreibhöhlenmenschen...
Ob das Geschriebene taugt, merkt man sofort, wenn man es öffentlich vorträgt – möglichst einem Publikum, welches einem weder freundschaftlich noch verwandtschaftlich verbunden ist (vgl. auch: Regel Nr. 10).
von Jan Schröter© Autorenfoto: Hocky Neubert
Schreiben ist eine überwiegend einsame Betätigung. Man sitzt wochen- oder gar monatelang allein am Schreibtisch. Während besonders konzentrierter Endphasen kurz vor Abgabeterminen mutiert man leicht zum Einsiedel-Schreibhöhlenmenschen...
man vernachlässigt alle Kontakte sowie sich selbst und verlottert
vielleicht sogar ein bisschen.
Wie gut, dass es etwas gibt, was selbst arbeitseifrigste Autoren dazu zwingt, sich gelegentlich vom Schreibtisch loszuketten und unter Leute zu gehen: die Autorenlesung.
Einige meiner Kolleginnen und Kollegen mögen solche Veranstaltungen gar nicht, aus unterschiedlichen Gründen. Manche stehen nicht so gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, andere leiden vor jedem Auftritt unter grässlichem Lampenfieber und haben weder die Nerven noch vielleicht die Stimme dafür.
Viele jedoch lieben es, öffentlich aus ihrem Werk vorzutragen.
Ich auch.
Ja, ich stehe ganz gern im Mittelpunkt und verspüre vor keiner Lesung Lampenfieber, sondern nur freudevolle Erwartung. Das ist schön für mich, aber es gibt noch viel mehr Gründe, warum ich Lesungen mag und für Autoren bedeutsam finde.
Wer, wie es Autoren eben tun, überwiegend einsam vor sich werkelt, läuft in Gefahr, diesem Werk gegenüber ein wenig betriebsblind zu werden. Es kann passieren, dass man selbst eine gerade geschriebene Formulierung oder Passage brüllend komisch findet – aber wenn man genau diese Stelle später bei einer Lesung zum Besten gibt, lacht niemand im Publikum. Dafür erntet man vielleicht Gelächter für etwas, was man beim Schreiben gar nicht so komisch fand.
Eine Lesung ist für Autoren die perfekte Gelegenheit, eigene Geschichten praxisnah von denen testen zu lassen, für die man diese Geschichten eigentlich schreibt. Unmittelbarer als bei einer Lesung bekommt man die Reaktionen seiner Leser auf das eigene Werk sonst kaum geboten.
An der Kritikfähigkeit eines einzelnen Testlesers oder auch an den Anmerkungen des Lektorats mag man noch zweifeln. Aber die kollektiv geäußerte, emotionale Reaktion eines ganzen Saalpublikums liefert die unbestechliche Beurteilung eines vorgelesenen Textes.
Das muss übrigens nicht unbedingt brüllendes Gelächter sein – auch ergriffenes Schweigen ist eine sehr eindeutige und aussagekräftige Reaktion auf eine Textstelle.
Autoren, die sich dieser Jury stellen, können dabei immer etwas für ihr weiteres Werk lernen. Ich möchte auf diesen „Publikumsjoker“ keinesfalls verzichten.
Damit ein Publikum allerdings bei einer Lesung verlässlich Emotionen erkennen lässt, ist eine Mindestmenge an Zuhörern erforderlich. Meiner Erfahrung nach liegt diese magische Grenze bei ungefähr zwölf Leuten. So viele sollten es sein, damit sich das einstellt, was ich als „Dynamik eines animierten Publikums“ bezeichne. Bei einer geringeren Publikumszahl traut sich nämlich so leicht keiner, seine Emotionen zu zeigen. Ist dagegen die Hütte brechend voll, prescht immer jemand mit Gelächter, Gesten der Ergriffenheit oder dem Ausdruck nervöser Spannung vor und reißt alle anderen mit.
Leider, das sei auch gesagt, ist die Hütte nicht immer brechend voll.
Fast alle meiner Kolleginnen und Kollegen (auch durchaus namhafte) haben mindestens eine, meist mehrere Anekdoten über Lesungen auf Lager, bei denen sie weitgehend allein auf weiter Flur standen. Unbekannter Autor, mangelhafte Organisation des Veranstalters, der erste Abend mit strahlendem Sommerwetter nach langen Regentagen, ein zeitgleich laufendes Fußball-Finalspiel – es gibt jede Menge Gründe für eine schlecht besuchte Lesung.
Mich erwischte es mal in einer kleinen Stadtteilbuchhandlung. Nach 200 km Anreise stand ich dort zusammen mit dem Buchhändler, einem Herren von der Lokalpresse und einer älteren Dame, die als Einzige als zahlendes Publikum infrage gekommen wäre. Ansonsten erschien niemand mehr. Zum ersten und glücklicherweise bis jetzt auch zum letzten Mal in meiner Autorenlaufbahn ließ ich eine Lesung ausfallen. Stattdessen gingen wir alle vier in ein benachbartes italienisches Restaurant. Es wurde ein ganz reizender Abend.
Abgesehen von diesem Ausfall lese ich immer, egal ob da fünf Leute auf Klappstühlen sitzen oder über 400 auf Polstermöbeln (hatte ich auch schon). Ich komme zu Lesungen in unscheinbare Orte, die und deren Bewohner ich sonst niemals kennenlernen dürfte. Das betrachte ich als großes Geschenk, ebenso wie die Einblicke in lokale Eigenheiten, die oft herrlich schrullig ausfallen.
Zum Beispiel die Veranstaltung in einem kleinen Ort im Sauerland. Ich las humorige Passagen aus meinem Kriminalroman „Der Rikschamann“, die andernorts bei jeder Lesung verlässlich Lachstürme auslösten. Hier nicht. Ich peilte, zunehmend irritiert, in Richtung Publikum: ausverkauft, um die 60 Besucher. Alle mit todernster Miene, keinen Mucks von sich gebend. Was war da los?
Endlich war Pause. Ich stapfte ratlos zur Bar, um mich mit einem doppelten Espresso zu dopen. Am Tresen saßen bereits zwei Damen aus meinem Publikum. Man sah mir meine Ratlosigkeit offenbar an, denn die eine empfing mich schmunzelnd mit den Worten: „Machen Sie sich keine Sorgen darüber, dass keiner lacht!“
„Die Leute sind hier so“, ergänzte die andere. „Die sind ein bisschen langsam und hören sich erstmal alles in Ruhe an. Die brauchen eine Weile, aber dann kommen sie aus dem Quark.“
Die Damen behielte Recht. In Halbzeit Zwei belohnte man meine erste Pointe mit zaghaftem Gelächter, danach gab es kein Halten mehr. Die Leute hatten eine Weile gebraucht, aber nun kamen sie gewaltig aus dem Quark. Und danach verriet mir ein älterer Herr, dem ich das soeben erworbene Buch signierte: „So schnell sind wir sonst nicht so lustig.“
Ein schöneres Kompliment habe ich auf einer Autorenlesung selten bekommen.
Ich las mehrfach in einem Städtchen am Rande der norddeutschen Tiefebene, da erscheinen sämtliche Lesungsbesucher bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn in der Buchhandlung. Exakt 45 Minuten vorher. Danach kommt niemand mehr. Warum das so ist, weiß nicht einmal der Buchhändler, der sein Geschäft vor Ort bereits in zweiter Generation betreibt.
Ich las in einem Ort, wo in einer Buchhandlung grundsätzlich in jedem Monat am Achten um acht Uhr eine Autorenlesung stattfand – scheißegal, ob dieser Termin gerade auf Sonntag, Ostern oder sonst einen Feiertag fiel. An jedem Achten um Acht erschien ein treues Stammpublikum, und als ich dort lesen durfte, fragte man mich bei meiner Ankunft überrascht, wer ich denn sei. Wer heute überhaupt vorträgt, hatte bis dahin nämlich keinen der Besucher interessiert – man war hier, weil es der Achte und acht Uhr war, da sprang ja immer irgendein Kasper auf die Bühne.
Ich las in einer Buch- und Spirituosenhandlung. Als Programm hatte man sich schwarzhumorige Kurzkrimis aus meinem Buch „Nur mal kurz – schon ist es vorbei“ erbeten, weil man zwischen den Geschichten Gratiswein ausschenken wollte. Jeder der knapp einhundert Besucher erhielt bereits beim Eintritt ein gut gefülltes Glas Wein in die Hand gedrückt. Nach jedem Kurzkrimi-Block machten weitere Flaschen die Runde, und nach einer halben Stunde herrschte Volksfeststimmung. Ich hätte ein Buch über Quantenphysik vorlesen können, die Leute hätten sich weggeschmissen vor Lachen und es mir anschließend abgekauft und signieren lassen.
Ich las im Hallenbad, morgens um Sieben. Mitten im Wald im Rahmen eines Wander-Events. Im Laderaum eines Frachtschiffes. In einer Klinik, einem Burggewölbe, dem Schießstand der Polizei, einem Segelclub, einer Wassermühle.
Keine dieser Erfahrungen möchte ich missen, aus jeder habe ich für mein Leben und meine Arbeit gelernt. Sogar aus dieser:
An drei Tagen im Dezember Kurzkrimi-Lesungen auf dem Weihnachtsmarkt einer norddeutschen Kleinstadt.
Ein Tatsachenbericht.
Tag 1: Eine Riesenbühne, wie gemacht für Don-Kosaken-Chöre in voller Besetzung. Für Autoren – selbst für einen mit meinem Ego – eindeutig überdimensioniert. Sobald ich diese Rampe betrete, sorgen eindrucksvolle Scheinwerferbatterien umgehend für vollständige Erblindung.
Dafür höre ich umso mehr. Nebenan randaliert ein Kinderkarussell, dessen Attraktivität sich für den Nachwuchs jedoch in Grenzen zu halten scheint – jedenfalls sind noch genügend freilaufende Schreihälse übrig, die unter meiner Bühne lauthals Verstecken spielen. Der Geräuschkulisse nach müsste ich jetzt „Gewinne! Gewinne!! Gewinne!!!“ ins Mikrofon brüllen. Das fänden die hyperaktiven Kinder unter mir auch bestimmt interessanter als eine Buchlesung, aber dafür bezahlt mich der Veranstalter nicht.
Die Temperatur liegt einige Grad unter Null, es wehen sibirische Winde. Ich würde ohne Weiteres ein paar Lautsprecher gegen einen Heizpilz tauschen, aber falls es da draußen einen Tauschpartner gäbe, würde ich ihn – dank der Scheinwerfer – nicht sehen.
Ich spule unverdrossen einen ersten Kurzkrimi ab. Es ist ein Gefühl, als stünde ich mit verbundenen Augen auf einem dunklen Nordseedeich und deklamierte in den Orkan. Ist da draußen irgendwer? Keine Ahnung.
Irgendwann registriere ich im Off ein paar fröhliche Glühweinspechte, die auch auf die Rezitation aus einem Telefonbuch lachsackmäßig reagiert hätten. Die sorgen für gnädigen Schlussapplaus. Ich darf nach Hause. Selbst nach einer heißen Suppe und drei Becher Glühwein bleibe ich schockgefrostet. Nach Stunden klappert es immer noch in der Kloschüssel, wenn ich pinkeln gehe. Eiswürfel.
Tag 2: Die erste Geschichte ist vorbei, ich vernehme zaghaften Applaus. Da draußen ist irgendwer. Es knallt heftig. Die Scheinwerfer erlöschen, der Ton ist weg. Immerhin, ich kann wieder sehen. Eine Frau steht vor der Bühne und winkt mich heran. Sie hat schöne Augen, ein weniger schönes Lippenpiercing und einen glühweinbeschickerten Begleiter. Außerdem hat sie eine Geschichte geschrieben und möchte, dass ich deren Veröffentlichung arrangiere. Ich wünsche mir die blindmachenden Scheinwerfer zurück.
Es ist bald Weihnachten. Da werden Wünsche schon mal wahr. „Zschschsch“, macht es – Licht und Ton sind wieder da und gewiss würde ein silberhell tirilierender Engelschor dieses Wunder begleiten, wäre das Karussell nebenan nicht viel lauter. Ich kehre zu meinem Mikrophon zurück und setze die Lesung fort, für wen auch immer. Bei dem Trubel und der Kälte da draußen wird niemand lange verweilen, denke ich, auch sie nicht, die gepiercte Literaturhoffnung.
So kann man sich irren. Nach der nächsten Geschichte ruft sie mich wieder nach vorn an die Rampe. Ihre Begleitung ist leider nicht betrunken genug, um das nicht sichtlich peinlich zu finden. Und ich bin zu nett, um es zu ignorieren. Das habe ich davon – sie fuchtelt mit einem Schreibheft:
„Darf ich jetzt auch mal meine Geschichte vorlesen?“
„Die auftretenden Künstler bestimmt das Stadtmarketing“, erkläre ich mit gut geheucheltem Bedauern, „ab morgen wieder im Rathaus erreichbar …“
Sie streckt mir unbeirrt das Schreibheft entgegen. „Okay. Dann lesen Sie eben meine Geschichte vor!“
Mir wäre gerne eine wirkungsvoll abschmetternde Antwort eingefallen. So wirkungsvoll wie die Reaktion ihres Begleiters wäre sie aber sicherlich niemals gewesen. Der Mann übergibt sich ebenso spontan wie geräuschvoll und starrt noch auf die üble Pfütze, als seine Begleiterin samt Schreibheft schon im Laufschritt das Weite sucht.
Wenigstens traut sich jetzt kein Kind mehr fürs Versteckspiel unter meine Bühne, registriere ich erfreut. Dafür kann man den auswurfbedingten Ausfall einer literarischen Weltpremiere schon mal billigend in Kauf nehmen.
Tag 3: Es regnet in Strömen. Tristesse pur auf dem Weihnachtsmarkt. Niemand kommt. Ich lese trotzdem. Auf der Riesenbühne, ausgeleuchtet wie ein Superstar, beschalle ich lautsprecherverstärkt einen ganzen Marktplatz mit Geschichten von Mord und Totschlag – fröhliche Weihnachten, übrigens.
Da. Jemand kommt. Mutti, Kleinkind und ein triefnasser Hund, der sichtlich am Menschenverstand verzweifelt. Kind zur Mutti, mit Blick auf die Rampensau: „Mama – was macht der Mann da?“
Das wüsste der Mann auch gerne.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen
Die Mailadresse lautet
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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Wie gut, dass es etwas gibt, was selbst arbeitseifrigste Autoren dazu zwingt, sich gelegentlich vom Schreibtisch loszuketten und unter Leute zu gehen: die Autorenlesung.
Einige meiner Kolleginnen und Kollegen mögen solche Veranstaltungen gar nicht, aus unterschiedlichen Gründen. Manche stehen nicht so gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, andere leiden vor jedem Auftritt unter grässlichem Lampenfieber und haben weder die Nerven noch vielleicht die Stimme dafür.
Viele jedoch lieben es, öffentlich aus ihrem Werk vorzutragen.
Ich auch.
Ja, ich stehe ganz gern im Mittelpunkt und verspüre vor keiner Lesung Lampenfieber, sondern nur freudevolle Erwartung. Das ist schön für mich, aber es gibt noch viel mehr Gründe, warum ich Lesungen mag und für Autoren bedeutsam finde.
Wer, wie es Autoren eben tun, überwiegend einsam vor sich werkelt, läuft in Gefahr, diesem Werk gegenüber ein wenig betriebsblind zu werden. Es kann passieren, dass man selbst eine gerade geschriebene Formulierung oder Passage brüllend komisch findet – aber wenn man genau diese Stelle später bei einer Lesung zum Besten gibt, lacht niemand im Publikum. Dafür erntet man vielleicht Gelächter für etwas, was man beim Schreiben gar nicht so komisch fand.
Eine Lesung ist für Autoren die perfekte Gelegenheit, eigene Geschichten praxisnah von denen testen zu lassen, für die man diese Geschichten eigentlich schreibt. Unmittelbarer als bei einer Lesung bekommt man die Reaktionen seiner Leser auf das eigene Werk sonst kaum geboten.
An der Kritikfähigkeit eines einzelnen Testlesers oder auch an den Anmerkungen des Lektorats mag man noch zweifeln. Aber die kollektiv geäußerte, emotionale Reaktion eines ganzen Saalpublikums liefert die unbestechliche Beurteilung eines vorgelesenen Textes.
Das muss übrigens nicht unbedingt brüllendes Gelächter sein – auch ergriffenes Schweigen ist eine sehr eindeutige und aussagekräftige Reaktion auf eine Textstelle.
Autoren, die sich dieser Jury stellen, können dabei immer etwas für ihr weiteres Werk lernen. Ich möchte auf diesen „Publikumsjoker“ keinesfalls verzichten.
Damit ein Publikum allerdings bei einer Lesung verlässlich Emotionen erkennen lässt, ist eine Mindestmenge an Zuhörern erforderlich. Meiner Erfahrung nach liegt diese magische Grenze bei ungefähr zwölf Leuten. So viele sollten es sein, damit sich das einstellt, was ich als „Dynamik eines animierten Publikums“ bezeichne. Bei einer geringeren Publikumszahl traut sich nämlich so leicht keiner, seine Emotionen zu zeigen. Ist dagegen die Hütte brechend voll, prescht immer jemand mit Gelächter, Gesten der Ergriffenheit oder dem Ausdruck nervöser Spannung vor und reißt alle anderen mit.
Leider, das sei auch gesagt, ist die Hütte nicht immer brechend voll.
Fast alle meiner Kolleginnen und Kollegen (auch durchaus namhafte) haben mindestens eine, meist mehrere Anekdoten über Lesungen auf Lager, bei denen sie weitgehend allein auf weiter Flur standen. Unbekannter Autor, mangelhafte Organisation des Veranstalters, der erste Abend mit strahlendem Sommerwetter nach langen Regentagen, ein zeitgleich laufendes Fußball-Finalspiel – es gibt jede Menge Gründe für eine schlecht besuchte Lesung.
Mich erwischte es mal in einer kleinen Stadtteilbuchhandlung. Nach 200 km Anreise stand ich dort zusammen mit dem Buchhändler, einem Herren von der Lokalpresse und einer älteren Dame, die als Einzige als zahlendes Publikum infrage gekommen wäre. Ansonsten erschien niemand mehr. Zum ersten und glücklicherweise bis jetzt auch zum letzten Mal in meiner Autorenlaufbahn ließ ich eine Lesung ausfallen. Stattdessen gingen wir alle vier in ein benachbartes italienisches Restaurant. Es wurde ein ganz reizender Abend.
Abgesehen von diesem Ausfall lese ich immer, egal ob da fünf Leute auf Klappstühlen sitzen oder über 400 auf Polstermöbeln (hatte ich auch schon). Ich komme zu Lesungen in unscheinbare Orte, die und deren Bewohner ich sonst niemals kennenlernen dürfte. Das betrachte ich als großes Geschenk, ebenso wie die Einblicke in lokale Eigenheiten, die oft herrlich schrullig ausfallen.
Zum Beispiel die Veranstaltung in einem kleinen Ort im Sauerland. Ich las humorige Passagen aus meinem Kriminalroman „Der Rikschamann“, die andernorts bei jeder Lesung verlässlich Lachstürme auslösten. Hier nicht. Ich peilte, zunehmend irritiert, in Richtung Publikum: ausverkauft, um die 60 Besucher. Alle mit todernster Miene, keinen Mucks von sich gebend. Was war da los?
Endlich war Pause. Ich stapfte ratlos zur Bar, um mich mit einem doppelten Espresso zu dopen. Am Tresen saßen bereits zwei Damen aus meinem Publikum. Man sah mir meine Ratlosigkeit offenbar an, denn die eine empfing mich schmunzelnd mit den Worten: „Machen Sie sich keine Sorgen darüber, dass keiner lacht!“
„Die Leute sind hier so“, ergänzte die andere. „Die sind ein bisschen langsam und hören sich erstmal alles in Ruhe an. Die brauchen eine Weile, aber dann kommen sie aus dem Quark.“
Die Damen behielte Recht. In Halbzeit Zwei belohnte man meine erste Pointe mit zaghaftem Gelächter, danach gab es kein Halten mehr. Die Leute hatten eine Weile gebraucht, aber nun kamen sie gewaltig aus dem Quark. Und danach verriet mir ein älterer Herr, dem ich das soeben erworbene Buch signierte: „So schnell sind wir sonst nicht so lustig.“
Ein schöneres Kompliment habe ich auf einer Autorenlesung selten bekommen.
Ich las mehrfach in einem Städtchen am Rande der norddeutschen Tiefebene, da erscheinen sämtliche Lesungsbesucher bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn in der Buchhandlung. Exakt 45 Minuten vorher. Danach kommt niemand mehr. Warum das so ist, weiß nicht einmal der Buchhändler, der sein Geschäft vor Ort bereits in zweiter Generation betreibt.
Ich las in einem Ort, wo in einer Buchhandlung grundsätzlich in jedem Monat am Achten um acht Uhr eine Autorenlesung stattfand – scheißegal, ob dieser Termin gerade auf Sonntag, Ostern oder sonst einen Feiertag fiel. An jedem Achten um Acht erschien ein treues Stammpublikum, und als ich dort lesen durfte, fragte man mich bei meiner Ankunft überrascht, wer ich denn sei. Wer heute überhaupt vorträgt, hatte bis dahin nämlich keinen der Besucher interessiert – man war hier, weil es der Achte und acht Uhr war, da sprang ja immer irgendein Kasper auf die Bühne.
Ich las in einer Buch- und Spirituosenhandlung. Als Programm hatte man sich schwarzhumorige Kurzkrimis aus meinem Buch „Nur mal kurz – schon ist es vorbei“ erbeten, weil man zwischen den Geschichten Gratiswein ausschenken wollte. Jeder der knapp einhundert Besucher erhielt bereits beim Eintritt ein gut gefülltes Glas Wein in die Hand gedrückt. Nach jedem Kurzkrimi-Block machten weitere Flaschen die Runde, und nach einer halben Stunde herrschte Volksfeststimmung. Ich hätte ein Buch über Quantenphysik vorlesen können, die Leute hätten sich weggeschmissen vor Lachen und es mir anschließend abgekauft und signieren lassen.
Ich las im Hallenbad, morgens um Sieben. Mitten im Wald im Rahmen eines Wander-Events. Im Laderaum eines Frachtschiffes. In einer Klinik, einem Burggewölbe, dem Schießstand der Polizei, einem Segelclub, einer Wassermühle.
Keine dieser Erfahrungen möchte ich missen, aus jeder habe ich für mein Leben und meine Arbeit gelernt. Sogar aus dieser:
An drei Tagen im Dezember Kurzkrimi-Lesungen auf dem Weihnachtsmarkt einer norddeutschen Kleinstadt.
Ein Tatsachenbericht.
Tag 1: Eine Riesenbühne, wie gemacht für Don-Kosaken-Chöre in voller Besetzung. Für Autoren – selbst für einen mit meinem Ego – eindeutig überdimensioniert. Sobald ich diese Rampe betrete, sorgen eindrucksvolle Scheinwerferbatterien umgehend für vollständige Erblindung.
Dafür höre ich umso mehr. Nebenan randaliert ein Kinderkarussell, dessen Attraktivität sich für den Nachwuchs jedoch in Grenzen zu halten scheint – jedenfalls sind noch genügend freilaufende Schreihälse übrig, die unter meiner Bühne lauthals Verstecken spielen. Der Geräuschkulisse nach müsste ich jetzt „Gewinne! Gewinne!! Gewinne!!!“ ins Mikrofon brüllen. Das fänden die hyperaktiven Kinder unter mir auch bestimmt interessanter als eine Buchlesung, aber dafür bezahlt mich der Veranstalter nicht.
Die Temperatur liegt einige Grad unter Null, es wehen sibirische Winde. Ich würde ohne Weiteres ein paar Lautsprecher gegen einen Heizpilz tauschen, aber falls es da draußen einen Tauschpartner gäbe, würde ich ihn – dank der Scheinwerfer – nicht sehen.
Ich spule unverdrossen einen ersten Kurzkrimi ab. Es ist ein Gefühl, als stünde ich mit verbundenen Augen auf einem dunklen Nordseedeich und deklamierte in den Orkan. Ist da draußen irgendwer? Keine Ahnung.
Irgendwann registriere ich im Off ein paar fröhliche Glühweinspechte, die auch auf die Rezitation aus einem Telefonbuch lachsackmäßig reagiert hätten. Die sorgen für gnädigen Schlussapplaus. Ich darf nach Hause. Selbst nach einer heißen Suppe und drei Becher Glühwein bleibe ich schockgefrostet. Nach Stunden klappert es immer noch in der Kloschüssel, wenn ich pinkeln gehe. Eiswürfel.
Tag 2: Die erste Geschichte ist vorbei, ich vernehme zaghaften Applaus. Da draußen ist irgendwer. Es knallt heftig. Die Scheinwerfer erlöschen, der Ton ist weg. Immerhin, ich kann wieder sehen. Eine Frau steht vor der Bühne und winkt mich heran. Sie hat schöne Augen, ein weniger schönes Lippenpiercing und einen glühweinbeschickerten Begleiter. Außerdem hat sie eine Geschichte geschrieben und möchte, dass ich deren Veröffentlichung arrangiere. Ich wünsche mir die blindmachenden Scheinwerfer zurück.
Es ist bald Weihnachten. Da werden Wünsche schon mal wahr. „Zschschsch“, macht es – Licht und Ton sind wieder da und gewiss würde ein silberhell tirilierender Engelschor dieses Wunder begleiten, wäre das Karussell nebenan nicht viel lauter. Ich kehre zu meinem Mikrophon zurück und setze die Lesung fort, für wen auch immer. Bei dem Trubel und der Kälte da draußen wird niemand lange verweilen, denke ich, auch sie nicht, die gepiercte Literaturhoffnung.
So kann man sich irren. Nach der nächsten Geschichte ruft sie mich wieder nach vorn an die Rampe. Ihre Begleitung ist leider nicht betrunken genug, um das nicht sichtlich peinlich zu finden. Und ich bin zu nett, um es zu ignorieren. Das habe ich davon – sie fuchtelt mit einem Schreibheft:
„Darf ich jetzt auch mal meine Geschichte vorlesen?“
„Die auftretenden Künstler bestimmt das Stadtmarketing“, erkläre ich mit gut geheucheltem Bedauern, „ab morgen wieder im Rathaus erreichbar …“
Sie streckt mir unbeirrt das Schreibheft entgegen. „Okay. Dann lesen Sie eben meine Geschichte vor!“
Mir wäre gerne eine wirkungsvoll abschmetternde Antwort eingefallen. So wirkungsvoll wie die Reaktion ihres Begleiters wäre sie aber sicherlich niemals gewesen. Der Mann übergibt sich ebenso spontan wie geräuschvoll und starrt noch auf die üble Pfütze, als seine Begleiterin samt Schreibheft schon im Laufschritt das Weite sucht.
Wenigstens traut sich jetzt kein Kind mehr fürs Versteckspiel unter meine Bühne, registriere ich erfreut. Dafür kann man den auswurfbedingten Ausfall einer literarischen Weltpremiere schon mal billigend in Kauf nehmen.
Tag 3: Es regnet in Strömen. Tristesse pur auf dem Weihnachtsmarkt. Niemand kommt. Ich lese trotzdem. Auf der Riesenbühne, ausgeleuchtet wie ein Superstar, beschalle ich lautsprecherverstärkt einen ganzen Marktplatz mit Geschichten von Mord und Totschlag – fröhliche Weihnachten, übrigens.
Da. Jemand kommt. Mutti, Kleinkind und ein triefnasser Hund, der sichtlich am Menschenverstand verzweifelt. Kind zur Mutti, mit Blick auf die Rampensau: „Mama – was macht der Mann da?“
Das wüsste der Mann auch gerne.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen
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