Schreibregel der Woche

© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sie haben den ganzen Tag lang nichts gegessen und wissen es gar nicht? Sie vergessen eine wichtige Verabredung, und das ist Ihnen auch vollkommen egal? Sie führen öffentlich Selbstgespräche, ohne es zu merken? Ertappen sich beim vergeblichen Versuch, einem Hydranten die Hand zu schütteln? Oder registrieren erst beim Zubettgehen, dass Sie sich heute überhaupt nicht angezogen haben? Keine Sorge. Alles ganz normal...
Konzentration + Ausblendung x Konsequenz = Effektivität. WARNUNG: Bei Anwendung dieser Formel über einen längeren Zeitraum droht soziale Unverträglichkeit – fragen Sie Ihre Freunde oder Familie.
von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sie haben den ganzen Tag lang nichts gegessen und wissen es gar nicht? Sie vergessen eine wichtige Verabredung, und das ist Ihnen auch vollkommen egal? Sie führen öffentlich Selbstgespräche, ohne es zu merken? Ertappen sich beim vergeblichen Versuch, einem Hydranten die Hand zu schütteln? Oder registrieren erst beim Zubettgehen, dass Sie sich heute überhaupt nicht angezogen haben? Keine Sorge. Alles ganz normal...
Jedenfalls, wenn Sie endlich dabei sind, Ihren großen Roman zu schreiben.
Schreiben ist ein schöpferischer Prozess, darüber besteht kein Zweifel. Man muss sich genau überlegen, was man schreiben will. Selbst, wenn es sich bloß um einen Einkaufszettel handelt. Je komplexer der Inhalt ist, den man schriftlich fixieren möchte, umso komplizierter gestalten sich diese Vorüberlegungen. Manchmal, sehr selten, drängt sich eine hilfreiche Idee als Geistesblitz auf, für den man scheinbar gar nichts tun musste. Ein Geistesblitz ist jedoch in der Regel zu wenig für einen ganzen Roman. Außerdem müsste dieser Roman ja trotzdem noch geschrieben werden. Und auf dieser beschwerlichen Strecke verliert dann so mancher Geistesblitz seine vermeintliche Strahlkraft, weil er vielleicht doch nicht so genial funktioniert wie zunächst gedacht.
Und schon ist man wieder am Grübeln.
Vor und während der Entstehung eines Romans entwickelt jeder Autor seine Geschichte. Man hat ständig Erweiterungen, Wendungen, Streichungen im Sinn oder moduliert an den Romanfiguren herum. Solange man diese Denktätigkeit während der dafür eingeplanten Autoren-Arbeitszeit erledigt, stört es ja auch niemanden. Leider lässt sich eine selbstentwickelte Romanfigur oft nicht einfach wegsperren, bis die Mittagspause, der Feierabend, das Wochenende oder der vielleicht noch nebenbei ausgeübte Broterwerbs-Job vorüber ist. Die Figuren und ihre Handlungen sind zwar nur fiktiv, aber sie entwickeln eine gewisse Eigendynamik – und zwar im Kopf desjenigen, der sie erschaffen hat.
Manchmal mit dramatischen Folgen, sowohl für den Schöpfer als auch für dessen Umwelt.
Vom französischen Schriftsteller Honoré de Balzac (1799 – 1850) ist überliefert, dass er sich oft extrem um das Wohlergehen seiner aktuell im Werden befindlichen Romanfiguren sorgte. Er sprach mit Freunden und Verwandten darüber, wie es Figur X oder Y ginge – so, als wären diese Figuren lebendige Menschen mit eigenständigen Schicksalen, auf die er überhaupt keinen Einfluss nehmen könnte.
Der schottische Poet Robert Burns (1759 – 1796) verstörte seine Nachbarn eines Tages damit, dass er stundenlang allein am Flussufer auf- und abwandelte, dabei heftig gestikulierte und sich offenbar mit einem gewissen „Tam“ zu unterhalten schien. Erst am Abend ging Burns endlich nach Hause – und brachte seine stattliche, 228 Zeilen umfassende Ballade „Tam O’Shanter“ in einem Zug zu Papier.
Neben Balzac und Burns bietet die Literaturgeschichte ungezählte weitere Beispiele von Autorinnen und Autoren, die in der Ausübung ihres Berufes, gelinde gesagt, etwas exzentrisch wirkten. Die hochkonzentrierte, innere Auseinandersetzung mit eigenen Fantasiegeburten führt allzu leicht dazu, dass man alles andere um sich herum ausblendet. Das passiert nicht nur Schriftstellern, wie prominente Beispiele eindrucksvoll beweisen.
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) ließ sich bei den Mahlzeiten von seiner Gattin am Tisch das Fleisch zerteilen. Reine Vorsichtsmaßnahme: Weil die Aufmerksamkeit des Musikgenies meist seinen inneren Klangwelten zugewandt war, hatte er sich bereits mehrfach beim Essen in die Hand geschnitten.
Mozarts sicherlich kaum weniger geniale Berufskollege Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) komponierte ebenfalls ohne Rücksicht auf Verluste. Überwältigte ihn die Muse (was jederzeit auch des Nachts geschehen konnte), rannte er laut brummend und heulend in seiner Wohnung herum wie ein Getriebener – zur Freude seiner dann zwangsläufig ebenfalls schlaflosen Nachbarn. Damit leider nicht genug: In einer Art ritueller Zwangshandlung pflegte sich der Meister zu entkleiden und krügeweise mit Wasser zu übergießen. Manchmal stundenlang, bis er bis über die Knöchel im Nassen stand und das Wasser in sämtliche Stockwerke unter ihm tropfte. Was dazu führte, dass Beethoven extrem oft umziehen musste, weil ihm erboste Vermieter die Wohnung kündigten.
Angesichts solcher Künstler-Anekdoten ist man geneigt, dem römischen Philosophen Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) beizupflichten, der seinerseits behauptete, es gäbe kein Genie ohne eine Beimischung von Wahnsinn.
Selbst wenn das, was Sie oder ich an Literatur erschaffen können, möglicherweise weit vom „Genie“-Status entfernt bleibt: Sogar wir schaffen es nur, einen Roman zu schreiben, wenn es uns gelingt
- uns darauf zu konzentrieren,
- Störendes auszublenden
- und dabei Konsequenz zu bewahren.
Darin liegt in der Tat ein gewisser Wahnsinn. Wer ernsthaft schreibt, mutet den Seinen auch etwas zu. Darüber muss man reden, und zwar möglichst bevor der Partner oder die Partnerin das Weite sucht oder sich die eigenen Kinder entfremden. Denn die Zeiten, in denen Autoren die Wahrung ihres kreativen Freiraums einfach patriarchalisch einforderten, sind ja wohl hoffentlich endgültig vorbei. Beim Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875 – 1955) ist es noch so gelaufen, wie es sein Sohn, der Historiker Golo Mann (1909 – 1994), in seinen Lebenserinnerungen beschrieb:
„Wir mussten uns nahezu immer ruhig verhalten; am Vormittag, weil der Vater arbeitete, am Nachmittag, weil er da erst las, dann schlief, gegen Abend, weil er sich wieder ernsthaft beschäftigte.“
Und falls die Kinder ihn störten, war des Dichters Donnerwetter fürchterlich.
Darüber kann man sich lustig machen, aber es offenbart auch das Dilemma. Sogar ein Literaturgenie kommt nicht ohne konsequente Konzentration und Ausblendung aus. Zwar sollte in meinen Augen nicht mal ein Roman vom Kaliber „Buddenbrooks“ für einen Autor Grund genug sein, die eigene Familie zu terrorisieren. Doch klar ist auch: Ein Roman kommt vielleicht niemals zustande, wenn man nicht dem Verfasser (oder der Verfasserin) während der Entstehungszeit eine gewisse Narrenfreiheit einräumt.
Vielleicht wollen Sie selbst ja gar kein Buch schreiben und leben bloß mit einem Menschen zusammen, der jedoch genau das vorhat. Dann sind Sie für das Gelingen dieses Vorhabens ziemlich wichtig. Mal eine Teepause erzwingen oder ein paar belegte Brote auf den Schreibtisch stellen kann Autorenleben retten. In Selbstgespräche darf man gerne eingreifen, wenn der Partner sie in aller Öffentlichkeit führt – das erhöht die Sozialverträglichkeit. Man sollte unbedingt seinen schreibvernebelten Partner dezent darauf hinweisen, dass er gerade nicht Herrn Meier die Hand schüttelt, sondern einen Hydranten begrüßt.
Nur wenn er oder sie den ganzen Tag lang vergisst, sich anzuziehen: Bleiben Sie still.
Das kann für Sie beide immer noch lustig werden.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Schreiben ist ein schöpferischer Prozess, darüber besteht kein Zweifel. Man muss sich genau überlegen, was man schreiben will. Selbst, wenn es sich bloß um einen Einkaufszettel handelt. Je komplexer der Inhalt ist, den man schriftlich fixieren möchte, umso komplizierter gestalten sich diese Vorüberlegungen. Manchmal, sehr selten, drängt sich eine hilfreiche Idee als Geistesblitz auf, für den man scheinbar gar nichts tun musste. Ein Geistesblitz ist jedoch in der Regel zu wenig für einen ganzen Roman. Außerdem müsste dieser Roman ja trotzdem noch geschrieben werden. Und auf dieser beschwerlichen Strecke verliert dann so mancher Geistesblitz seine vermeintliche Strahlkraft, weil er vielleicht doch nicht so genial funktioniert wie zunächst gedacht.
Und schon ist man wieder am Grübeln.
Vor und während der Entstehung eines Romans entwickelt jeder Autor seine Geschichte. Man hat ständig Erweiterungen, Wendungen, Streichungen im Sinn oder moduliert an den Romanfiguren herum. Solange man diese Denktätigkeit während der dafür eingeplanten Autoren-Arbeitszeit erledigt, stört es ja auch niemanden. Leider lässt sich eine selbstentwickelte Romanfigur oft nicht einfach wegsperren, bis die Mittagspause, der Feierabend, das Wochenende oder der vielleicht noch nebenbei ausgeübte Broterwerbs-Job vorüber ist. Die Figuren und ihre Handlungen sind zwar nur fiktiv, aber sie entwickeln eine gewisse Eigendynamik – und zwar im Kopf desjenigen, der sie erschaffen hat.
Manchmal mit dramatischen Folgen, sowohl für den Schöpfer als auch für dessen Umwelt.
Vom französischen Schriftsteller Honoré de Balzac (1799 – 1850) ist überliefert, dass er sich oft extrem um das Wohlergehen seiner aktuell im Werden befindlichen Romanfiguren sorgte. Er sprach mit Freunden und Verwandten darüber, wie es Figur X oder Y ginge – so, als wären diese Figuren lebendige Menschen mit eigenständigen Schicksalen, auf die er überhaupt keinen Einfluss nehmen könnte.
Der schottische Poet Robert Burns (1759 – 1796) verstörte seine Nachbarn eines Tages damit, dass er stundenlang allein am Flussufer auf- und abwandelte, dabei heftig gestikulierte und sich offenbar mit einem gewissen „Tam“ zu unterhalten schien. Erst am Abend ging Burns endlich nach Hause – und brachte seine stattliche, 228 Zeilen umfassende Ballade „Tam O’Shanter“ in einem Zug zu Papier.
Neben Balzac und Burns bietet die Literaturgeschichte ungezählte weitere Beispiele von Autorinnen und Autoren, die in der Ausübung ihres Berufes, gelinde gesagt, etwas exzentrisch wirkten. Die hochkonzentrierte, innere Auseinandersetzung mit eigenen Fantasiegeburten führt allzu leicht dazu, dass man alles andere um sich herum ausblendet. Das passiert nicht nur Schriftstellern, wie prominente Beispiele eindrucksvoll beweisen.
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) ließ sich bei den Mahlzeiten von seiner Gattin am Tisch das Fleisch zerteilen. Reine Vorsichtsmaßnahme: Weil die Aufmerksamkeit des Musikgenies meist seinen inneren Klangwelten zugewandt war, hatte er sich bereits mehrfach beim Essen in die Hand geschnitten.
Mozarts sicherlich kaum weniger geniale Berufskollege Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) komponierte ebenfalls ohne Rücksicht auf Verluste. Überwältigte ihn die Muse (was jederzeit auch des Nachts geschehen konnte), rannte er laut brummend und heulend in seiner Wohnung herum wie ein Getriebener – zur Freude seiner dann zwangsläufig ebenfalls schlaflosen Nachbarn. Damit leider nicht genug: In einer Art ritueller Zwangshandlung pflegte sich der Meister zu entkleiden und krügeweise mit Wasser zu übergießen. Manchmal stundenlang, bis er bis über die Knöchel im Nassen stand und das Wasser in sämtliche Stockwerke unter ihm tropfte. Was dazu führte, dass Beethoven extrem oft umziehen musste, weil ihm erboste Vermieter die Wohnung kündigten.
Angesichts solcher Künstler-Anekdoten ist man geneigt, dem römischen Philosophen Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) beizupflichten, der seinerseits behauptete, es gäbe kein Genie ohne eine Beimischung von Wahnsinn.
Selbst wenn das, was Sie oder ich an Literatur erschaffen können, möglicherweise weit vom „Genie“-Status entfernt bleibt: Sogar wir schaffen es nur, einen Roman zu schreiben, wenn es uns gelingt
- uns darauf zu konzentrieren,
- Störendes auszublenden
- und dabei Konsequenz zu bewahren.
Darin liegt in der Tat ein gewisser Wahnsinn. Wer ernsthaft schreibt, mutet den Seinen auch etwas zu. Darüber muss man reden, und zwar möglichst bevor der Partner oder die Partnerin das Weite sucht oder sich die eigenen Kinder entfremden. Denn die Zeiten, in denen Autoren die Wahrung ihres kreativen Freiraums einfach patriarchalisch einforderten, sind ja wohl hoffentlich endgültig vorbei. Beim Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875 – 1955) ist es noch so gelaufen, wie es sein Sohn, der Historiker Golo Mann (1909 – 1994), in seinen Lebenserinnerungen beschrieb:
„Wir mussten uns nahezu immer ruhig verhalten; am Vormittag, weil der Vater arbeitete, am Nachmittag, weil er da erst las, dann schlief, gegen Abend, weil er sich wieder ernsthaft beschäftigte.“
Und falls die Kinder ihn störten, war des Dichters Donnerwetter fürchterlich.
Darüber kann man sich lustig machen, aber es offenbart auch das Dilemma. Sogar ein Literaturgenie kommt nicht ohne konsequente Konzentration und Ausblendung aus. Zwar sollte in meinen Augen nicht mal ein Roman vom Kaliber „Buddenbrooks“ für einen Autor Grund genug sein, die eigene Familie zu terrorisieren. Doch klar ist auch: Ein Roman kommt vielleicht niemals zustande, wenn man nicht dem Verfasser (oder der Verfasserin) während der Entstehungszeit eine gewisse Narrenfreiheit einräumt.
Vielleicht wollen Sie selbst ja gar kein Buch schreiben und leben bloß mit einem Menschen zusammen, der jedoch genau das vorhat. Dann sind Sie für das Gelingen dieses Vorhabens ziemlich wichtig. Mal eine Teepause erzwingen oder ein paar belegte Brote auf den Schreibtisch stellen kann Autorenleben retten. In Selbstgespräche darf man gerne eingreifen, wenn der Partner sie in aller Öffentlichkeit führt – das erhöht die Sozialverträglichkeit. Man sollte unbedingt seinen schreibvernebelten Partner dezent darauf hinweisen, dass er gerade nicht Herrn Meier die Hand schüttelt, sondern einen Hydranten begrüßt.
Nur wenn er oder sie den ganzen Tag lang vergisst, sich anzuziehen: Bleiben Sie still.
Das kann für Sie beide immer noch lustig werden.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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