Schreibregel der Woche

© Autorenfoto: Hocky Neubert
Eines Tages kam ich auf Einladung des Goethe-Instituts und der Deutschen Botschaft nach Weißrussland. Vermutlich, weil sich zur dortigen „Woche der deutschen Literatur und Sprache“ angesichts des spärlich bemessenen Honorars keine seriösen Autoren zum Besuch bereit erklärt hatten. Es mochte auch damit zu tun haben, dass seriöse Autoren zumeist abwinken, wenn die Anreise zur Lesung eine sechzehnstündige Zugfahrt zuzüglich einer Stunde Grenzkontrolle beinhaltet...
Wie auch immer, seriöse Autoren hatten da auf jeden Fall etwas verpasst.
Zum Beispiel meine Lesung in Brest in einer ungeheizten Bibliothek. Durch verrottete Fensterrahmen zogen ungebremste Herbstwinde. Draußen froren die Pfützen auf den Straßen, drinnen froren wir. Obwohl: Eigentlich fror nur der Autor, und der war daran selber schuld. Das Publikum erschien in Winterkleidung und legte diese schlauerweise auch nicht ab. Ich dagegen saß im Oberhemd auf dem Podium. Alles nur wegen des Übersetzers. Dieser Mann, ein professoraler Sauertopf mit verkniffener Miene, fragte mich bereits vor der Veranstaltung nach der Katharsis in meinen Romanen. Ich fand nicht mal die Zeit zum Googeln, schon deckte er mich mit einem Trommelfeuer literaturtheoretischer Thesen ein. Man raunte mir zu, der Mann habe sich als Übersetzer gehobener deutscher Literatur einen Namen gemacht, Spezialgebiet Heinrich Heine.
Falls Sie meine Romane noch nicht kennen … also, ich bin stolz darauf, was ich geschrieben habe. Aber es ist nicht Heine, gebe ich zu.
Mir wurde so heiß, dass ich sofort den Mantel ablegte. Dann begann die Veranstaltung. Der Übersetzer nahm neben mir auf dem Podium Platz und lächelte nicht mal bei der Begrüßung des Publikums. Er trug ebenfalls nur ein Oberhemd, aber ein dünnes Jackett darüber. Spielstand: Eins zu Null für mich, frohlockte ich. Anstelle des bei Lesungen obligaten Glases Mineralwassers schob man mir eine dampfende Tasse aufs Pult. Heißes Wasser. Pur. Kaltes wäre vermutlich binnen von Minuten gefroren.
Ich las aus meinem Roman „Rettungsringe“ und startete mit dem ersten Kapitel. Das Publikum bestand längst nicht nur aus Leuten mit Deutschkenntnissen. Mit dem Übersetzer war vereinbart, dass ich jeweils nach etwa einer Seite pausieren und er dann das zuvor Gelesene kurz zusammenfassen würde. Ich staunte: Der Mann redete länger als ich. Immerhin schien er dem Inhalt meiner Geschichte hart auf der Spur zu sein. Es geht im Anfangskapitel um Abiturienten auf ihrer Abschlussfeier. Es ist von Abendgarderobe die Rede und ich identifizierte in der Übersetzung des Dolmetschers das Wort „Schlippsi“ – eine wunderbare Erweiterung meines rudimentären Russisch-Sprachschatzes. Nach weiteren Übersetzungsunterbrechungen gelangte ich zur Überzeugung, dass eine russische Ausgabe meines Romans in etwa doppelt so viele Seiten haben müsste wie die deutsche. Unvorsichtigerweise hatte ich im vorgetragenen Kapitel ein Zitat von George Bernard Shaw eingebaut („Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Bedürfnisses“). Ob mein Sprachschatten das Zitat übersetzte, entzog sich meiner Kenntnis. Aber der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der er nun den Namen „George Bernard Shaw“ erwähnte, hielt er aus dem Stand eine biographische Vorlesung über diesen irischen Dramatiker, die jeder Volkshochschule zur Ehre gereicht hätte. Die Zuschauer blinzelten schläfrig, aber die hatten es ja auch warm unter ihren Wintermänteln und Pelzmützen. Meine Tasse Heißwasser dampfte längst nicht mehr, und ich bildete mir ein, erste Eiskristalle darin zu sichten.
Dann war die Lesung vorüber, das Publikum stellte dem Autor noch ein paar Fragen. Es waren kluge Fragen dabei, neugierige Fragen und natürlich auch der grenzübergreifende Klassiker: „Wie kommen Sie auf Ihre Ideen?“ Meine Standardantwort: „Immer, wenn das Geld alle ist“ sorgte auch in Weißrussland für Heiterkeit, bloß mein Übersetzer verzog keine Miene. Dafür verstrickte er mich beim anschließenden Entfrostungstee im Büro der Bibliotheksdirektorin sofort wieder in eine Literaturdebatte. Krimis seien keine Literatur, stellte er energisch fest. Wegen der darin nicht vorhandenen Katharsis, selbstverständlich. Ich wäre schon froh gewesen, wenn ich nach dieser kalten Nummer in der Bibliothek ohne Katarrh nach Hause käme, von Katharsis mal ganz zu schweigen.
„Was ist mit Dostojewskis ‚Schuld und Sühne‘?“ fiel mir geistesgegenwärtig ein. Er schaute mich an wie einen Spielverderber und grummelte erbost:
„Das sagen dann immer alle!“
Prompt fühlte ich mich schlecht und gab zu, trotz Germanistikstudiums herzlich wenig von Literaturtheorie zu verstehen. Er tröstete mich mit der zitatreifen Aussage, mein Roman gefalle ihm trotzdem, weil meine Sprache „gut schmecke und Bilder male“.
Dafür fährt man doch gerne 16 Stunden mit der Eisenbahn und lässt sich schockfrosten.
Außerdem reiste ich ja auch noch weiter nach Minsk und wurde per Botschaftslimousine in Begleitung eines ansehnlichen weiblichen Kulturattachés zur Lesung vor 150 Deutschstudenten chauffiert. Die hatten von meinem Werk leider noch nie etwas gehört, versicherten mir aber treuherzig, sie wüssten alle, wie sich garantiert jeder meiner Romane ebenso gratis wie illegal als E-Book herunterladen ließe. Im Gegenzug lernte ich einen Qualitätstest für 53prozentigen Selbstgebrannten: Etwas davon auf die Fußbodendielen kippen und anzünden. Brennt es mit hellblauer Flamme, ist alles super. Und der Boden ist dann auch keimfrei, scheiß auf die Brandlöcher.
Es war ja kein seriöser Autor dabei.
Und Sie fragen sich wahrscheinlich schon seit Beginn dieses Kapitels, was ich Ihnen damit sagen will.
Es ist ganz simpel: Man muss Worte nicht immer in ihrer exakten Bedeutung erfassen und verstehen. Man kann sie erfühlen. Sie haben eine eigene Melodie, einen Rhythmus. Sie sprechen die Sinne an. Man kennt das aus dem Auslandsurlaub, wenn man irgendwo weilt, wo man leider kein einziges Wort der dortigen Landessprache spricht. Doch mit etwas Glück läuft es so, wie es mein Lesungs-Übersetzer in Weißrussland beschrieb: Die fremde Sprache „schmeckt gut“ und malt Bilder im Kopf. Und schon probieren Sie Dinge aus, von denen Sie im heimischen Alltag unbedingt die Finger lassen würden – exotische Speisen aus undefinierbaren Zutaten, Spirituosen zweifelhafter Herkunft, Bungee-Sprünge und dergleichen mehr.
Satzstellung, Rhythmus, Betonung. Jeder Mensch wird darauf gepolt, bevor er überhaupt seine eigene Muttersprache lernt. Das schreiende Baby lässt sich vom Singsang seiner Mutter einlullen, weil es sich im Gesamtpaket geborgen fühlt – Mama ist da, ihre Wärme und die tröstlich vertraute Sprachmusik. Lautes Palaver, schrilles Gezeter oder dröhnende Kommandostimmen lassen das Baby dagegen rasch wieder in Geschrei ausbrechen, ohne dass es begreift, worum es dabei im Wortlaut geht.
Ein Autor kann diese zutiefst menschliche Veranlagung nutzen, um seinen Figuren Profil zu verleihen. Denn die sinnliche Ansprache funktioniert sogar schriftlich.
Stellen Sie sich ein Drehbuch vor, in dem es um ferne Welten, interstellare Konflikte und eine Gruppe elitärer Krieger mit Lichtschwertern und philosophischem Überbau geht. Genau, „Star Wars“ und die Jedi-Ritter. Eine Saga, die in Filmen wie in Buchform weltweit Millionen Fans in ihren Bann geschlagen hat. Diese Jedi-Ritter sind mächtig. Beherrschen jede Menge Psycho-Tricks, ziehen ihr Schwert schneller als John Wayne einen 45er Colt und blicken überall voll durch. Ihr Anführer und Meister ist ein Jedi namens Yoda. Man sollte meinen, dass Meister Yoda von Gestalt und Habitus mindestens doppelt so groß und schön sein müsste wie alle übrigen Mitglieder seines Ordens und dabei noch sprachlich außergewöhnlich eloquent. Ist er aber nicht. Im Gegenteil.
Yoda ist uralt, erinnert optisch an eine aufrecht gehende Schildkröte und bringt syntaktisch keinen unfallfreien Satz über die Lippen. Gilt es beispielsweise, einen Nachwuchs-Jedi für einen begangenen Fehler zu tadeln, formuliert Yoda die Rüge so: „Noch viel lernen du musst, junger Padawan!“
„Padawan“ soll in etwa „Schüler, Auszubildender“ bedeuten und ist ein Fantasiewort. Frei erfunden – so etwas funktioniert auch. Bevor man die Geschichte nicht liest oder als Film sieht, weiß man überhaupt nicht, was das sein soll – ein „Padawan“. Aber nach ein paar Seiten Buchlektüre oder einigen Minuten Filmhandlung akzeptiert man den Begriff nicht bloß, man verinnerlicht ihn. Man muss eben Worte nicht immer in der Schule gelernt haben und verstehen, wenn man fühlen kann, wie sie gemeint sind.
Ebenso fühlt man es mehr, als dass man es rational versteht: Es sind genau Yodas offensichtliche Unzulänglichkeiten, die seine wahre Größe ausmachen. Er geht am Stock – aber im Ernstfall tänzelt er mit seinem Lichtschwert durch die Feindesschar wie ein junger Gott. Er holpert sprachlich durch die Syntax – aber er gibt die Philosophie vor, der die Jedis folgen. Sähe Meister Yoda so aus wie Jung-Siegfried und erwiese sich beredt wie ein Gebrauchtwagenhändler, wäre diese Figur nicht ansatzweise so vielschichtig und interessant, wie sie ist.
Überlegen Sie also gut, welche Sprache Ihre Roman- oder Filmfigur pflegen soll. Welche Art Melodie und Rhythmus am besten zum jeweiligen Charakter passt. Und wie diese Sprache wohl bei Ihren Lesern ankommt. Führen Sie die Figur auch hinsichtlich ihrer Sprache konsequent durch die Handlung. Konsequent auch bezüglich eventueller Entwicklungen: Falls das arme Bauernkind vom Anfang Ihrer Geschichte zwischen den Seiten 100 und 200 ein Harvard-Studium durchzieht, wird das vermutlich Auswirkungen auf sein Sprachvermögen haben. Eine solche Entwicklung muss man in der wörtlichen Rede dieser Figur sinnlich „schmecken“ können. Überhaupt: Wenn Ihre ganze Geschichte sprachlich „gut schmeckt“ und Bilder malt, haben Ihre Leser Freude daran, auch wenn sie sonst eher George Bernard Shaw lesen.
Und sollten Sie das alles vergessen, bleibt Ihnen aus diesem Kapitel hoffentlich immer noch der weißrussische Qualitätstest für Selbstgebrannten in Erinnerung. Kann man immer gebrauchen.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Man muss Worte nicht immer verstehen – wenn man fühlen kann, wie sie gemeint sind
von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Eines Tages kam ich auf Einladung des Goethe-Instituts und der Deutschen Botschaft nach Weißrussland. Vermutlich, weil sich zur dortigen „Woche der deutschen Literatur und Sprache“ angesichts des spärlich bemessenen Honorars keine seriösen Autoren zum Besuch bereit erklärt hatten. Es mochte auch damit zu tun haben, dass seriöse Autoren zumeist abwinken, wenn die Anreise zur Lesung eine sechzehnstündige Zugfahrt zuzüglich einer Stunde Grenzkontrolle beinhaltet...
Wie auch immer, seriöse Autoren hatten da auf jeden Fall etwas verpasst.
Zum Beispiel meine Lesung in Brest in einer ungeheizten Bibliothek. Durch verrottete Fensterrahmen zogen ungebremste Herbstwinde. Draußen froren die Pfützen auf den Straßen, drinnen froren wir. Obwohl: Eigentlich fror nur der Autor, und der war daran selber schuld. Das Publikum erschien in Winterkleidung und legte diese schlauerweise auch nicht ab. Ich dagegen saß im Oberhemd auf dem Podium. Alles nur wegen des Übersetzers. Dieser Mann, ein professoraler Sauertopf mit verkniffener Miene, fragte mich bereits vor der Veranstaltung nach der Katharsis in meinen Romanen. Ich fand nicht mal die Zeit zum Googeln, schon deckte er mich mit einem Trommelfeuer literaturtheoretischer Thesen ein. Man raunte mir zu, der Mann habe sich als Übersetzer gehobener deutscher Literatur einen Namen gemacht, Spezialgebiet Heinrich Heine.
Falls Sie meine Romane noch nicht kennen … also, ich bin stolz darauf, was ich geschrieben habe. Aber es ist nicht Heine, gebe ich zu.
Mir wurde so heiß, dass ich sofort den Mantel ablegte. Dann begann die Veranstaltung. Der Übersetzer nahm neben mir auf dem Podium Platz und lächelte nicht mal bei der Begrüßung des Publikums. Er trug ebenfalls nur ein Oberhemd, aber ein dünnes Jackett darüber. Spielstand: Eins zu Null für mich, frohlockte ich. Anstelle des bei Lesungen obligaten Glases Mineralwassers schob man mir eine dampfende Tasse aufs Pult. Heißes Wasser. Pur. Kaltes wäre vermutlich binnen von Minuten gefroren.
Ich las aus meinem Roman „Rettungsringe“ und startete mit dem ersten Kapitel. Das Publikum bestand längst nicht nur aus Leuten mit Deutschkenntnissen. Mit dem Übersetzer war vereinbart, dass ich jeweils nach etwa einer Seite pausieren und er dann das zuvor Gelesene kurz zusammenfassen würde. Ich staunte: Der Mann redete länger als ich. Immerhin schien er dem Inhalt meiner Geschichte hart auf der Spur zu sein. Es geht im Anfangskapitel um Abiturienten auf ihrer Abschlussfeier. Es ist von Abendgarderobe die Rede und ich identifizierte in der Übersetzung des Dolmetschers das Wort „Schlippsi“ – eine wunderbare Erweiterung meines rudimentären Russisch-Sprachschatzes. Nach weiteren Übersetzungsunterbrechungen gelangte ich zur Überzeugung, dass eine russische Ausgabe meines Romans in etwa doppelt so viele Seiten haben müsste wie die deutsche. Unvorsichtigerweise hatte ich im vorgetragenen Kapitel ein Zitat von George Bernard Shaw eingebaut („Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Bedürfnisses“). Ob mein Sprachschatten das Zitat übersetzte, entzog sich meiner Kenntnis. Aber der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der er nun den Namen „George Bernard Shaw“ erwähnte, hielt er aus dem Stand eine biographische Vorlesung über diesen irischen Dramatiker, die jeder Volkshochschule zur Ehre gereicht hätte. Die Zuschauer blinzelten schläfrig, aber die hatten es ja auch warm unter ihren Wintermänteln und Pelzmützen. Meine Tasse Heißwasser dampfte längst nicht mehr, und ich bildete mir ein, erste Eiskristalle darin zu sichten.
Dann war die Lesung vorüber, das Publikum stellte dem Autor noch ein paar Fragen. Es waren kluge Fragen dabei, neugierige Fragen und natürlich auch der grenzübergreifende Klassiker: „Wie kommen Sie auf Ihre Ideen?“ Meine Standardantwort: „Immer, wenn das Geld alle ist“ sorgte auch in Weißrussland für Heiterkeit, bloß mein Übersetzer verzog keine Miene. Dafür verstrickte er mich beim anschließenden Entfrostungstee im Büro der Bibliotheksdirektorin sofort wieder in eine Literaturdebatte. Krimis seien keine Literatur, stellte er energisch fest. Wegen der darin nicht vorhandenen Katharsis, selbstverständlich. Ich wäre schon froh gewesen, wenn ich nach dieser kalten Nummer in der Bibliothek ohne Katarrh nach Hause käme, von Katharsis mal ganz zu schweigen.
„Was ist mit Dostojewskis ‚Schuld und Sühne‘?“ fiel mir geistesgegenwärtig ein. Er schaute mich an wie einen Spielverderber und grummelte erbost:
„Das sagen dann immer alle!“
Prompt fühlte ich mich schlecht und gab zu, trotz Germanistikstudiums herzlich wenig von Literaturtheorie zu verstehen. Er tröstete mich mit der zitatreifen Aussage, mein Roman gefalle ihm trotzdem, weil meine Sprache „gut schmecke und Bilder male“.
Dafür fährt man doch gerne 16 Stunden mit der Eisenbahn und lässt sich schockfrosten.
Außerdem reiste ich ja auch noch weiter nach Minsk und wurde per Botschaftslimousine in Begleitung eines ansehnlichen weiblichen Kulturattachés zur Lesung vor 150 Deutschstudenten chauffiert. Die hatten von meinem Werk leider noch nie etwas gehört, versicherten mir aber treuherzig, sie wüssten alle, wie sich garantiert jeder meiner Romane ebenso gratis wie illegal als E-Book herunterladen ließe. Im Gegenzug lernte ich einen Qualitätstest für 53prozentigen Selbstgebrannten: Etwas davon auf die Fußbodendielen kippen und anzünden. Brennt es mit hellblauer Flamme, ist alles super. Und der Boden ist dann auch keimfrei, scheiß auf die Brandlöcher.
Es war ja kein seriöser Autor dabei.
Und Sie fragen sich wahrscheinlich schon seit Beginn dieses Kapitels, was ich Ihnen damit sagen will.
Es ist ganz simpel: Man muss Worte nicht immer in ihrer exakten Bedeutung erfassen und verstehen. Man kann sie erfühlen. Sie haben eine eigene Melodie, einen Rhythmus. Sie sprechen die Sinne an. Man kennt das aus dem Auslandsurlaub, wenn man irgendwo weilt, wo man leider kein einziges Wort der dortigen Landessprache spricht. Doch mit etwas Glück läuft es so, wie es mein Lesungs-Übersetzer in Weißrussland beschrieb: Die fremde Sprache „schmeckt gut“ und malt Bilder im Kopf. Und schon probieren Sie Dinge aus, von denen Sie im heimischen Alltag unbedingt die Finger lassen würden – exotische Speisen aus undefinierbaren Zutaten, Spirituosen zweifelhafter Herkunft, Bungee-Sprünge und dergleichen mehr.
Satzstellung, Rhythmus, Betonung. Jeder Mensch wird darauf gepolt, bevor er überhaupt seine eigene Muttersprache lernt. Das schreiende Baby lässt sich vom Singsang seiner Mutter einlullen, weil es sich im Gesamtpaket geborgen fühlt – Mama ist da, ihre Wärme und die tröstlich vertraute Sprachmusik. Lautes Palaver, schrilles Gezeter oder dröhnende Kommandostimmen lassen das Baby dagegen rasch wieder in Geschrei ausbrechen, ohne dass es begreift, worum es dabei im Wortlaut geht.
Ein Autor kann diese zutiefst menschliche Veranlagung nutzen, um seinen Figuren Profil zu verleihen. Denn die sinnliche Ansprache funktioniert sogar schriftlich.
Stellen Sie sich ein Drehbuch vor, in dem es um ferne Welten, interstellare Konflikte und eine Gruppe elitärer Krieger mit Lichtschwertern und philosophischem Überbau geht. Genau, „Star Wars“ und die Jedi-Ritter. Eine Saga, die in Filmen wie in Buchform weltweit Millionen Fans in ihren Bann geschlagen hat. Diese Jedi-Ritter sind mächtig. Beherrschen jede Menge Psycho-Tricks, ziehen ihr Schwert schneller als John Wayne einen 45er Colt und blicken überall voll durch. Ihr Anführer und Meister ist ein Jedi namens Yoda. Man sollte meinen, dass Meister Yoda von Gestalt und Habitus mindestens doppelt so groß und schön sein müsste wie alle übrigen Mitglieder seines Ordens und dabei noch sprachlich außergewöhnlich eloquent. Ist er aber nicht. Im Gegenteil.
Yoda ist uralt, erinnert optisch an eine aufrecht gehende Schildkröte und bringt syntaktisch keinen unfallfreien Satz über die Lippen. Gilt es beispielsweise, einen Nachwuchs-Jedi für einen begangenen Fehler zu tadeln, formuliert Yoda die Rüge so: „Noch viel lernen du musst, junger Padawan!“
„Padawan“ soll in etwa „Schüler, Auszubildender“ bedeuten und ist ein Fantasiewort. Frei erfunden – so etwas funktioniert auch. Bevor man die Geschichte nicht liest oder als Film sieht, weiß man überhaupt nicht, was das sein soll – ein „Padawan“. Aber nach ein paar Seiten Buchlektüre oder einigen Minuten Filmhandlung akzeptiert man den Begriff nicht bloß, man verinnerlicht ihn. Man muss eben Worte nicht immer in der Schule gelernt haben und verstehen, wenn man fühlen kann, wie sie gemeint sind.
Ebenso fühlt man es mehr, als dass man es rational versteht: Es sind genau Yodas offensichtliche Unzulänglichkeiten, die seine wahre Größe ausmachen. Er geht am Stock – aber im Ernstfall tänzelt er mit seinem Lichtschwert durch die Feindesschar wie ein junger Gott. Er holpert sprachlich durch die Syntax – aber er gibt die Philosophie vor, der die Jedis folgen. Sähe Meister Yoda so aus wie Jung-Siegfried und erwiese sich beredt wie ein Gebrauchtwagenhändler, wäre diese Figur nicht ansatzweise so vielschichtig und interessant, wie sie ist.
Überlegen Sie also gut, welche Sprache Ihre Roman- oder Filmfigur pflegen soll. Welche Art Melodie und Rhythmus am besten zum jeweiligen Charakter passt. Und wie diese Sprache wohl bei Ihren Lesern ankommt. Führen Sie die Figur auch hinsichtlich ihrer Sprache konsequent durch die Handlung. Konsequent auch bezüglich eventueller Entwicklungen: Falls das arme Bauernkind vom Anfang Ihrer Geschichte zwischen den Seiten 100 und 200 ein Harvard-Studium durchzieht, wird das vermutlich Auswirkungen auf sein Sprachvermögen haben. Eine solche Entwicklung muss man in der wörtlichen Rede dieser Figur sinnlich „schmecken“ können. Überhaupt: Wenn Ihre ganze Geschichte sprachlich „gut schmeckt“ und Bilder malt, haben Ihre Leser Freude daran, auch wenn sie sonst eher George Bernard Shaw lesen.
Und sollten Sie das alles vergessen, bleibt Ihnen aus diesem Kapitel hoffentlich immer noch der weißrussische Qualitätstest für Selbstgebrannten in Erinnerung. Kann man immer gebrauchen.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
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