Frage der Woche
Auf Deutsch heißt Plot Point „Wendepunkt“, und damit bezeichnet man ein Ereignis, das eine Geschichte grundlegend wendet und ihr so eine neue Richtung gibt. Plot Points gehören damit zu den Pfeilern, auf denen der Spannungsbogen ruht, man zählt sie zum klassischen Autorenhandwerkszeug. Aristoteles beschrieb sie vor rund 2000 Jahren in seiner Dramentheorie, und von dort aus fanden sie in den 1970er Jahren über Syd Fields Drehbuch-Ratgeber Eingang in diverse Modelle zum Drehbuchschreiben. Heute findet man ihre Spuren in den meisten Schreibschulen und -programmen, denn aus Autorensicht sind sie vor allem eines: Hilfsmittel beim Plotten, also dem Ausdenken und Planen von Geschichten.
Sie sagen, dass Sie sich niemals beim Schreiben Ihrer Texte über Wendepunkte Gedanken machen und das auch nicht brauchen? Wer noch nie ein Problem mit dem Spannungsbogen seiner Story hatte, wer sich noch nie in den schier endlosen Möglichkeiten verirrt hat, die eine Geschichte gerade am Anfang darstellt, der braucht weder Plot Points zu kennen noch diesen Text zu lesen. Allerdings, auch dann schadet es nicht, zu verstehen, was man gerade macht …
Hier nun ein erstes, simples Beispiel in Sachen Plot Points:
Nehmen wir als Ausgangspunkt unserer Beispiel-Geschichte das universelle Thema „Mann liebt Frau“. Folgt darauf „Frau liebt Mann“, wäre das im wahren Leben schön, doch für eine Geschichte ziemlich langweilig. Was aber wäre, wenn sie ihn nicht oder nicht mehr liebt, worauf seine Freunde beschließen, dass der liebeskranke Jungspund auf andere Gedanken gebracht werden muss? Sie ersinnen also einen Streich: Gemeinsam werden sie eine fremde Party sprengen, und zwar eine Party bei diesen Snobs, diesen Blödmännern, zu denen die Freunde und unsere Hauptfigur sonst möglichst großen Abstand halten.
Und da passiert es dann: Romeo verliebt sich in Julia, die einzige Frau, die er nicht lieben darf, denn ihrer beiden Familien sind bis aufs Blut verfeindet. Aus der Leidenspose wird echte Liebe – das Blatt hat sich gewendet, und nun wird die Sache spannend, denn plötzlich geht es um alles. Kann die Liebe den Hass überwinden? Das ist die neue Frage, die den Plot bestimmt, und wir sind dank des Plot Points nun im zweiten Akt.
Denn das gehört zu den Aufgaben von Plot Point I und Plot Point II: ersterer bringt den Übergang in den zweiten Akt hervor, in dem dann all die Konflikte, die im ersten Akt angelegt werden, so richtig schön ausgebreitet werden und dabei immer weiter hochkochen. Plot Point II dagegen markiert das Ende des zweiten Aktes und damit den Übergang in den Showdown des dritten Aktes.
In Shakespeares Romeo und Julia ist der Plot Point II übrigens die heimliche Hochzeit des Paares. Die bewirkt nämlich, dass Romeo zu Beginn des dritten Aktes versucht, im Streit zwischen seinem Freund Mercutio und Tybalt – als Julias Cousin in den Augen der Welt Romeos Feind, aber dank der Hochzeit ja nun sein Verwandter – zu vermitteln. Das geht gründlich schief, wie man weiß: Erst tötet Tybalt Mercutio, dann Romeo Tybalt, und Romeo hat Glück, anschließend nur verbannt und nicht dem Henker zugeführt zu werden.
Das, was in einer Liebesgeschichte das Happy End wäre – die Hochzeit –, ist in dieser Liebestragödie der perfekte zweite Plot Point. Das verweist auf einen anderen Aspekt insbesondere von Plot Point II: die sogenannte Fallhöhe. Aus dem Himmel der erfüllten Liebe stürzt Plot Point II die Liebenden durch den dritten Akt in den Abgrund des Todes. Tiefer kann man kaum fallen.
Nehmen wir als zweites Beispiel Macbeth, auch von Shakespeare, auch sehr dramatisch. Nachdem er König Duncan erschlagen und dessen Krone an sich gerissen hat, er seine Gegner scharenweise umbrachte und seine Frau sich ob der resultierenden Schuldgefühle das Leben nahm, hat Macbeth doch Muffensausen, ob er damit durchkommen wird. Also begibt er sich noch einmal zu den Hexen, deren Weissagungen am Anfang seinen Ehrgeiz weckten. Diesmal hört er von ihnen, dass seine Burg Dunsinane sicher sei, solange nicht der Wald von Birnam zu ihr käme. Außerdem könne ihn kein Mensch, von einem Weib geboren, schaden. Klingt gut, oder?
Macbeth wähnt sich daraufhin jedenfalls in Sicherheit. Aber dann marschieren plötzlich Macduffs Soldaten getarnt mit Zweigen und Ästen auf die Burg zu. Noch immer hält sich Macbeth für ungefährdet – bis ihm Macduff im finalen Zweikampf steckt, dass er per Kaiserschnitt zur Welt kam. Und kurz darauf ist Macbeth tot.
Beide Beispiele zeigen zum einen, dass Plot Points idealerweise nur dem Anschein nach eindeutig sein sollten, und zum anderen, dass ihre Art vom Genre abhängig ist: in Tragödien befinden sich die Helden in Plot Point II auf dem (scheinbaren) Höhepunkt ihres Erfolges, näher kann man dem Himmel praktisch nicht kommen. In Komödien und allen anderen Geschichten mit Happy End sind dagegen Held oder Heldin im Plot Point II schier unendlich weit von der Erfüllung ihrer Träume entfernt – sagen wir, es geht um die große Liebe, dann ist sie soeben mit seinem besten Freund vor den Altar getreten, und er hat ein Schweigegelübde in einem weit entfernten einsamen Kloster abgelegt.
Das Prinzip funktioniert natürlich auch bei Werken mit mehr als drei Akten oder ganz ohne solchen, denn das mit den drei Akten ist im übertragenen Sinne zu verstehen: Sehr vereinfacht gesagt, ist Plot Point I das, was eine Geschichte aus ihrem Anfang (der Exposition) in ihre Mitte – den großen, wichtigen Teil, in dem all die bis dato nur angedeuteten, angelegten Konflikte ausgelebt werden – befördert. Und Plot Point II, sein Gegenstück, dreht die Geschichte aus der Mitte Richtung Ende, das heißt, Richtung Auflösung aller Konflikte und ungelöster Fragen.
Noch einmal anders ausgedrückt: Im Thriller, ob als Film oder Buch, ist Plot Point II oft der Punkt, an dem der bis dato größte, ja einzig sicher und vertrauenswürdig geglaubte Helfer des Helden ermordet wird oder sich als Verbündeter des Täters (wenn nicht gleich als dieser) entpuppt. In Actionfilmen folgt auf Plot Point II oftmals die größte, wildeste Verfolgungsjagd aller Zeiten ...
In welchem Medium man seine Geschichte auch erzählt, in welchem Genre man sie auch verortet, die Grundspannung ruht dabei immer auf diesen beiden Wendepunkten: Der erste gibt einer scheinbar gradlinig verlaufenden Sache plötzlich einen ganz anderen Dreh – Macbeth erhebt sich gegen Duncan, Romeo verliebt sich in Julia, oder der bisherige Tatverdächtige taucht im Krimi als zweites Mordopfer auf. Der zweite Plot Point dagegen leitet in den Showdown, also die spannend gewendete Zuspitzung und Auflösung der Konflikte, ein – Macbeth wiegt sich mit der Prophezeiung der Hexen in falscher Sicherheit, Romeos heimliche Heirat mit Julia bringt ihn in eine unmögliche Situation im Streit der beiden Familien, und die Polizei kennt jetzt zwar den Täter, aber er verschanzt mit einer Geisel.
Wenn Sie sich gerade bang fragen, wo denn die Plot Points bei Ihrer veröffentlichten Geschichte XYZ sind, keine Sorge! Ich musste selbst eine ganze Weile für diesen Text nachdenken, wo denn bei meinem Romandebüt Der Tod ist ein langer, trüber Fluss die Plot Points sitzen.
Wenn Sie Der Tod ist ein langer, trüber Fluss noch nicht gelesen haben und das noch tun möchten, den kursiv gesetzten Teil nicht lesen – ACHTUNG, SPOILERGEFAHR!
Einfach ist es, in meiner Geschichte den Plot Point I zu markieren: nämlich, wenn Ophelia die 'Komfortzone' in der Bonner Gerichtsmedizin verlässt und sich auf die Suche nach der Identität des unbekannten Toten macht. Aber was genau markiert diese Wende? Dass sie die Sachen des Toten aus dem Institut mitnimmt? Oder ist es tatsächlich erst der Moment, wenn sich der Tote in ihren Traum drängt? Der Showdown nach dem Plot Point II beginnt dann mit der Erkenntnis, dass Täter und Opfer nicht nur Vater und Sohn sind, sondern auch Drogenfahnder und Drogensüchtiger.
Grämen Sie sich nicht, wenn sich die Praxis nicht immer mit der Theorie überein bringen lässt. Mein zweiter Roman Rattes Gift zum Beispiel begann sein Leben als Drehbuchprojekt. Obwohl ich den Stoff konsequent durchgeplottet hatte, bevor ich auch nur die erste Filmszene und sehr viel später die Prosafassung schrieb, fällt es mir rückblickend schwer zu sagen, wo genau die Plot Points sitzen.
Und das zeigt auch, dass Plot Points ein Stück weit Interpretationssache sind – und das wiederum erlaubt, sie beim Plotten der eigenen Geschichten als Hilfsmittel zu verwenden, das mir dient und dem nicht ich mich unterordnen muss. Ich kann mit Hilfe der Plot Points für mich ausprobieren, wie ich die Geschichte erzählen will, und erfahre dabei möglicherweise, was für eine Geschichte es eigentlich ist. Einfach, indem ich mir anschaue, was passiert, wenn das, was ich für den Anfangspunkt meiner Geschichte halte, Plot Point I wird – oder umgekehrt, wenn ich aus meinem vermeintlichen Plot Point den Anfang meiner Geschichte mache. Und wie sieht es mit Plot Point II aus? Passt der wirklich zum Ende, d.h. ist die Fallhöhe ausreichend? Überhaupt, beziehen sich die Plot Points sowie Anfang und Ende tatsächlich auf dieselbe Figur, die dann bitteschön auch meine Hauptfigur sein sollte?
Ich weiß, man sollte Fragen nicht mit Fragen beantworten. Aber wenn Sie nicht nur theoretisch wissen wollen, was Plot Points sind, sondern dieses Wissen auf Ihre Geschichte anwenden möchten, kommen wir nicht darum herum. Dann sind Plot Points nämlich auch so etwas wie Fragen, die Sie an Ihre Geschichte stellen sollten: Welches Ereignis gibt meinem Plot eine Wendung? Wie wichtig ist es für die Handlung, für die Hauptfigur, für das Thema meiner Geschichte?
Setzen Sie sich also an Ihre eigene Geschichte und finden Sie raus, ob Sie deren Spannungspotenzial optimal genutzt haben – und ob Sie wirklich schon das erzählen, was Sie eigentlich erzählen wollen.
Mischa Bach alias Dr. Michaela Bach ist nicht nur Autorin und Drehbuchautorin, sondern auch Dramatikerin, Übersetzerin und Sachbuchautorin. Ihre einfühlsamen und präzisen Texte wurden mit dem Martha-Saalfeld-Preis ausgezeichnet und für den Glauser-Preis nominiert. Die promovierte Filmwissenschaftlerin arbeitet außerdem als Dozentin und als Lektorin, unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Essen und gibt immer wieder Schreibkurse für werdende Autoren.
Was sind eigentlich Plot Points?
von Mischa Bach
Die gute Nachricht vorweg: Jede funktionierende, spannende Geschichte
hat Plot Points, weshalb sie auch jeder von uns kennt – selbst, wenn
manch Autor meinen mag, Plot Points seien ungefähr so schwer zu erkennen
wie der G-Punkt.
Sie sagen, dass Sie sich niemals beim Schreiben Ihrer Texte über Wendepunkte Gedanken machen und das auch nicht brauchen? Wer noch nie ein Problem mit dem Spannungsbogen seiner Story hatte, wer sich noch nie in den schier endlosen Möglichkeiten verirrt hat, die eine Geschichte gerade am Anfang darstellt, der braucht weder Plot Points zu kennen noch diesen Text zu lesen. Allerdings, auch dann schadet es nicht, zu verstehen, was man gerade macht …
Hier nun ein erstes, simples Beispiel in Sachen Plot Points:
Nehmen wir als Ausgangspunkt unserer Beispiel-Geschichte das universelle Thema „Mann liebt Frau“. Folgt darauf „Frau liebt Mann“, wäre das im wahren Leben schön, doch für eine Geschichte ziemlich langweilig. Was aber wäre, wenn sie ihn nicht oder nicht mehr liebt, worauf seine Freunde beschließen, dass der liebeskranke Jungspund auf andere Gedanken gebracht werden muss? Sie ersinnen also einen Streich: Gemeinsam werden sie eine fremde Party sprengen, und zwar eine Party bei diesen Snobs, diesen Blödmännern, zu denen die Freunde und unsere Hauptfigur sonst möglichst großen Abstand halten.
Und da passiert es dann: Romeo verliebt sich in Julia, die einzige Frau, die er nicht lieben darf, denn ihrer beiden Familien sind bis aufs Blut verfeindet. Aus der Leidenspose wird echte Liebe – das Blatt hat sich gewendet, und nun wird die Sache spannend, denn plötzlich geht es um alles. Kann die Liebe den Hass überwinden? Das ist die neue Frage, die den Plot bestimmt, und wir sind dank des Plot Points nun im zweiten Akt.
Denn das gehört zu den Aufgaben von Plot Point I und Plot Point II: ersterer bringt den Übergang in den zweiten Akt hervor, in dem dann all die Konflikte, die im ersten Akt angelegt werden, so richtig schön ausgebreitet werden und dabei immer weiter hochkochen. Plot Point II dagegen markiert das Ende des zweiten Aktes und damit den Übergang in den Showdown des dritten Aktes.
In Shakespeares Romeo und Julia ist der Plot Point II übrigens die heimliche Hochzeit des Paares. Die bewirkt nämlich, dass Romeo zu Beginn des dritten Aktes versucht, im Streit zwischen seinem Freund Mercutio und Tybalt – als Julias Cousin in den Augen der Welt Romeos Feind, aber dank der Hochzeit ja nun sein Verwandter – zu vermitteln. Das geht gründlich schief, wie man weiß: Erst tötet Tybalt Mercutio, dann Romeo Tybalt, und Romeo hat Glück, anschließend nur verbannt und nicht dem Henker zugeführt zu werden.
Das, was in einer Liebesgeschichte das Happy End wäre – die Hochzeit –, ist in dieser Liebestragödie der perfekte zweite Plot Point. Das verweist auf einen anderen Aspekt insbesondere von Plot Point II: die sogenannte Fallhöhe. Aus dem Himmel der erfüllten Liebe stürzt Plot Point II die Liebenden durch den dritten Akt in den Abgrund des Todes. Tiefer kann man kaum fallen.
Nehmen wir als zweites Beispiel Macbeth, auch von Shakespeare, auch sehr dramatisch. Nachdem er König Duncan erschlagen und dessen Krone an sich gerissen hat, er seine Gegner scharenweise umbrachte und seine Frau sich ob der resultierenden Schuldgefühle das Leben nahm, hat Macbeth doch Muffensausen, ob er damit durchkommen wird. Also begibt er sich noch einmal zu den Hexen, deren Weissagungen am Anfang seinen Ehrgeiz weckten. Diesmal hört er von ihnen, dass seine Burg Dunsinane sicher sei, solange nicht der Wald von Birnam zu ihr käme. Außerdem könne ihn kein Mensch, von einem Weib geboren, schaden. Klingt gut, oder?
Macbeth wähnt sich daraufhin jedenfalls in Sicherheit. Aber dann marschieren plötzlich Macduffs Soldaten getarnt mit Zweigen und Ästen auf die Burg zu. Noch immer hält sich Macbeth für ungefährdet – bis ihm Macduff im finalen Zweikampf steckt, dass er per Kaiserschnitt zur Welt kam. Und kurz darauf ist Macbeth tot.
Beide Beispiele zeigen zum einen, dass Plot Points idealerweise nur dem Anschein nach eindeutig sein sollten, und zum anderen, dass ihre Art vom Genre abhängig ist: in Tragödien befinden sich die Helden in Plot Point II auf dem (scheinbaren) Höhepunkt ihres Erfolges, näher kann man dem Himmel praktisch nicht kommen. In Komödien und allen anderen Geschichten mit Happy End sind dagegen Held oder Heldin im Plot Point II schier unendlich weit von der Erfüllung ihrer Träume entfernt – sagen wir, es geht um die große Liebe, dann ist sie soeben mit seinem besten Freund vor den Altar getreten, und er hat ein Schweigegelübde in einem weit entfernten einsamen Kloster abgelegt.
Das Prinzip funktioniert natürlich auch bei Werken mit mehr als drei Akten oder ganz ohne solchen, denn das mit den drei Akten ist im übertragenen Sinne zu verstehen: Sehr vereinfacht gesagt, ist Plot Point I das, was eine Geschichte aus ihrem Anfang (der Exposition) in ihre Mitte – den großen, wichtigen Teil, in dem all die bis dato nur angedeuteten, angelegten Konflikte ausgelebt werden – befördert. Und Plot Point II, sein Gegenstück, dreht die Geschichte aus der Mitte Richtung Ende, das heißt, Richtung Auflösung aller Konflikte und ungelöster Fragen.
Noch einmal anders ausgedrückt: Im Thriller, ob als Film oder Buch, ist Plot Point II oft der Punkt, an dem der bis dato größte, ja einzig sicher und vertrauenswürdig geglaubte Helfer des Helden ermordet wird oder sich als Verbündeter des Täters (wenn nicht gleich als dieser) entpuppt. In Actionfilmen folgt auf Plot Point II oftmals die größte, wildeste Verfolgungsjagd aller Zeiten ...
In welchem Medium man seine Geschichte auch erzählt, in welchem Genre man sie auch verortet, die Grundspannung ruht dabei immer auf diesen beiden Wendepunkten: Der erste gibt einer scheinbar gradlinig verlaufenden Sache plötzlich einen ganz anderen Dreh – Macbeth erhebt sich gegen Duncan, Romeo verliebt sich in Julia, oder der bisherige Tatverdächtige taucht im Krimi als zweites Mordopfer auf. Der zweite Plot Point dagegen leitet in den Showdown, also die spannend gewendete Zuspitzung und Auflösung der Konflikte, ein – Macbeth wiegt sich mit der Prophezeiung der Hexen in falscher Sicherheit, Romeos heimliche Heirat mit Julia bringt ihn in eine unmögliche Situation im Streit der beiden Familien, und die Polizei kennt jetzt zwar den Täter, aber er verschanzt mit einer Geisel.
Wenn Sie sich gerade bang fragen, wo denn die Plot Points bei Ihrer veröffentlichten Geschichte XYZ sind, keine Sorge! Ich musste selbst eine ganze Weile für diesen Text nachdenken, wo denn bei meinem Romandebüt Der Tod ist ein langer, trüber Fluss die Plot Points sitzen.
Wenn Sie Der Tod ist ein langer, trüber Fluss noch nicht gelesen haben und das noch tun möchten, den kursiv gesetzten Teil nicht lesen – ACHTUNG, SPOILERGEFAHR!
Einfach ist es, in meiner Geschichte den Plot Point I zu markieren: nämlich, wenn Ophelia die 'Komfortzone' in der Bonner Gerichtsmedizin verlässt und sich auf die Suche nach der Identität des unbekannten Toten macht. Aber was genau markiert diese Wende? Dass sie die Sachen des Toten aus dem Institut mitnimmt? Oder ist es tatsächlich erst der Moment, wenn sich der Tote in ihren Traum drängt? Der Showdown nach dem Plot Point II beginnt dann mit der Erkenntnis, dass Täter und Opfer nicht nur Vater und Sohn sind, sondern auch Drogenfahnder und Drogensüchtiger.
Grämen Sie sich nicht, wenn sich die Praxis nicht immer mit der Theorie überein bringen lässt. Mein zweiter Roman Rattes Gift zum Beispiel begann sein Leben als Drehbuchprojekt. Obwohl ich den Stoff konsequent durchgeplottet hatte, bevor ich auch nur die erste Filmszene und sehr viel später die Prosafassung schrieb, fällt es mir rückblickend schwer zu sagen, wo genau die Plot Points sitzen.
Und das zeigt auch, dass Plot Points ein Stück weit Interpretationssache sind – und das wiederum erlaubt, sie beim Plotten der eigenen Geschichten als Hilfsmittel zu verwenden, das mir dient und dem nicht ich mich unterordnen muss. Ich kann mit Hilfe der Plot Points für mich ausprobieren, wie ich die Geschichte erzählen will, und erfahre dabei möglicherweise, was für eine Geschichte es eigentlich ist. Einfach, indem ich mir anschaue, was passiert, wenn das, was ich für den Anfangspunkt meiner Geschichte halte, Plot Point I wird – oder umgekehrt, wenn ich aus meinem vermeintlichen Plot Point den Anfang meiner Geschichte mache. Und wie sieht es mit Plot Point II aus? Passt der wirklich zum Ende, d.h. ist die Fallhöhe ausreichend? Überhaupt, beziehen sich die Plot Points sowie Anfang und Ende tatsächlich auf dieselbe Figur, die dann bitteschön auch meine Hauptfigur sein sollte?
Ich weiß, man sollte Fragen nicht mit Fragen beantworten. Aber wenn Sie nicht nur theoretisch wissen wollen, was Plot Points sind, sondern dieses Wissen auf Ihre Geschichte anwenden möchten, kommen wir nicht darum herum. Dann sind Plot Points nämlich auch so etwas wie Fragen, die Sie an Ihre Geschichte stellen sollten: Welches Ereignis gibt meinem Plot eine Wendung? Wie wichtig ist es für die Handlung, für die Hauptfigur, für das Thema meiner Geschichte?
Setzen Sie sich also an Ihre eigene Geschichte und finden Sie raus, ob Sie deren Spannungspotenzial optimal genutzt haben – und ob Sie wirklich schon das erzählen, was Sie eigentlich erzählen wollen.
Mischa Bach alias Dr. Michaela Bach ist nicht nur Autorin und Drehbuchautorin, sondern auch Dramatikerin, Übersetzerin und Sachbuchautorin. Ihre einfühlsamen und präzisen Texte wurden mit dem Martha-Saalfeld-Preis ausgezeichnet und für den Glauser-Preis nominiert. Die promovierte Filmwissenschaftlerin arbeitet außerdem als Dozentin und als Lektorin, unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Essen und gibt immer wieder Schreibkurse für werdende Autoren.
weiterlesen
weniger